07 November 2008

Suicide

Eigentlich ist es dem Arzt stets unverständlich geblieben, warum Menschen freiwillig ihr Leben beenden. Woher kommt so viel Verzweiflung und Perspektivlosigkeit? Wohin ist der Mut verschwunden, das Steuer herumzureissen und das eigene Leben zu verändern?

In der Schule, in der fünften Klasse: Ein Familienvater erschoss sich, die Frau, die Kinder und damit die Klassenkamaradin. Achte Klasse: Die Mutter einer Freundin erhängte sich. Später im Krankenhaus: Ein Polizist, der über seine Krebserkrankung aufgeklärt worden war, bat sein Ehefrau, die Dienstwaffe mitzubringen. Sie lehnte ab. Kurz darauf war der Mann vom Dach des Krankenhauses gesprungen.

Später, im Notarztdienst: Sprung vom Kirchturm, Erhängen im Keller und auf dem Dachboden und unzählige Tabletten- und Alkoholvergiftungen, von denen man nie recht wußte ob es um Selbstbetäubung oder Suizid gehen sollte. Einige solcher Vergiftungen führten zum Tod, die meisten nicht, wenige bewirkten lebenslange Behinderung. Unerklärliche Verkehrsunfälle: Warum ist der Fahrer ohne Bremsversuch gegen den Baum gesaust? Die Gleis-Suicide nahmen auffällig zu, seidem der ICE durch den Ort rauschte.

Der Notarzt stellt den Tod fest. Auf dem Totenschein kreuzt er "nicht-natürliche Todesursache" an, immer bei Suizid. Früher oder später kommt die Kripo an den Ort des Geschehens. Sie muss ein "Fremdverschulden" ausschliessen. Manchmal sind Hausarzt oder Angehörige erreichbar. Meist wird über Depressionen oder frühere Suizidversuche berichtet. Selten ist man überrascht. Irgendwann hören Notärzte auf, nach den Hintergründen zu fragen. Nach der Vorgeschichte, den Begleitumständen, den Ursachen für Trauer, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit. Den Auslösern.

Irgendwann wird die wesentliche Frage nicht mehr gestellt: "Wäre diese Selbsttötung nicht zu verhindern gewesen?" Notärzte werden zynisch, abgestumpft, desinteressiert.

Zum nächsten Einsatz gerufen.

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