26 Mai 2010

Überfallen...

"Bereitschaftsarzt überfallen und verletzt
26. Mai 2010, 08:20 Uhr
Berlin (dpa/bb) - Ein 58 Jahre alter Bereitschaftsarzt ist in der Nacht zum Mittwoch in Berlin-Pankow von zwei Unbekannten überfallen und beraubt worden. Er war vorher durch einen fingierten Notfallanruf in den Zeiler Weg gelockt worden, wie die Polizei mitteilte. Dort wurde er dann überfallen. Die beiden Räuber hatten es auf die Arztasche abgesehen, die sie dem 58-Jährigen stahlen und mit ihr flüchteten. Der Arzt begab sich dann zur Behandlung seiner allerdings nur leichten Verletzungen in ein Krankenhaus."


Nach den Taxifahrern nun also die Dienstärzte. Noch im letzten Sommer bestellte man hierzulande ein Taxi in eine abgelegene Gegend. Während der Fahrer die Türklingel suchte wurde der Wagen geplündert. In diesem Jahr raubt man einfach den Taxifahrer aus, ohne ihn erst suchen zu lassen. Und nun also die Notärzte. Die haben ja nicht nur ein paar Benzos in der Bereitschaftstasche.

Was tun? Bewaffnen? Als ein Kollege vor einigen Jahren öffentlichkeitswirksam einen Waffenschein für seine Notdienste forderte, haben wir verwundert mit dem Kopf geschüttelt. Und an amerikanische Ghettos gedacht. Sowas kannte man höchstens aus "Emergency Room". Aber Berlin ist nicht weit weg. Verstärkung mitnehmen? Einen Bodygard, der schonmal die Schreibarbeit machen kann, wenn er uns nicht beschützen muss? Wer soll das bezahlen? Oder bestimmte Adressen gar nicht mehr anfahren? Welche denn?

Der Arzt ist seit 20 Jahren im Notdienst-Geschäft. Manchmal war ihm mulmig zumute. Jetzt ist er etwas ratlos.

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29 Mai 2009

Freiwillig

Altbau am Bahnübergang. Ein heruntergekommenes Mietshaus. Schäbige Briefkästen, klapperige Türklingeln, nicht alle lesbar. Ein muffiger, dunkler Flur. Der Arzt wundert sich manchmal, wie schäbig man in dieser Stadt wohnen kann.

Im Treppenhaus schreit ihm eine Männerstimme entgegen. Wütend, aufgeregt: "Bleiben Sie, wo Sie sind. Sie brauchen nicht raufzukommen. Wir brauchen keinen Arzt. Weg mit Ihnen!" Mal sehen, ob ALLE dieser Meinung sind, dort oben. Dritter Stock, große Altbauwohnung, unaufgeräumt, vernebelt, rauchverhangen. Im Wohnzimmer hat sich die Ehefrau verschanzt mit den drei kleinen Kindern. Sie raucht. Der Größte zeigt mir seinen Gameboy. Die Eltern des Patienten sind in der Küche. Er, um den es geht, Vater der Kinder, Sohn der Eltern, der den Arzt so freundlich begrüßte, tobt durch den Flur. Fremdanamnese: Er habe viel gekifft und sei viel rumgezogen die letzten Tage. Immer verworrener und aggressiver geworden. Frau und Kinder bedroht. Sich selbst bedroht. Und, ja, er sei auch schon mal wegen einer Psychose in ... gewesen.

Der Arzt lädt den Patienten auf eine Zigarette ein. Der Gesprächsversuch mündet bald in wütenden Schuldzuweisungen zwischen den Familienmitgliedern. Lauter Streit, noch mehr Rauch. Die armen Kinder. In die Psychiatrie? Nie wieder! Nicht freiwillig. Vergiss es! Er läuft weg. Die Frau flüstert: "Jetzt holt er die Messer". Doch er hat nur Tabak geholt. Der Arzt gibt ihm zwei Möglichkeiten: Zwangseinweisung oder Freiwilligkeit. Nein, andere Möglichkeiten gibt es nicht. Entweder oder. Zwangseinweisung käme jetzt allerdings völlig unpassend. Dauert ewig. Draussen warten die nächsten Patienten. Und hier geht das schon seit 20 Minuten nicht voran. Schonmal RTW mit Blaulicht rufen. Klare Ansage. Kompromisslos. Wille gegen Wille.

Langsam lichtet sich der Nebel. Die Situation entwirrt sich. Nimmt eine Richtung an: Freiwillig in die Psychiatrie, der Familie zuliebe. Bitte! Kein Gestreite, keine Schuldzuweisungen, kein Geschrei mehr. Als der RTW unten vorfährt packt er seinen Tabak ein und folgt dem Arzt die Treppe runter.

Freiwillig.

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14 April 2009

Stummes Blaulicht

Einmal war das NEF zur Reparatur. Dieses Auto war eigentlich besonders häufig zur Reparatur. Ersatz sollte ein älterer Opel sein. Alles drin, alles dran. Ab dafür. Einsatz!

Das Blaulicht rotiert. Aber wo bleibt das Martinshorn? Kein Ton von oben. Die Hupe bot nur unzureichenden Ersatz. Kaum jemand wich zur Seite oder machte Platz. Nun ging es in einen bevölkerten Dorfkern. Kurzerhand nahm der Notarzt das Mikrophon für den Aussenlautsprecher. Der war reichlich laut.

Aber was sollte er nun ins Mikrofon sprechen? Er versuchte es mit "Tatü Tata!" Und erntete amüsiert verständnislose Blicke. Bei "Achtung, Notarzt, bitte machen Sie Platz!" musste er selber lachen. Obwohl es ja stimmte.

Es war Sommer und die NEF-Fenster waren runtergedreht, so kam es alsbald zu einer schrillen Rückkopplung zwischen Mikro und Lautsprecher. Gute Idee: Der Notarzt hielt das Micro nach draussen und bewegte es vor und zurück. Das war ein sausendes Heulen und Pfeiffen! Huui Iuuh! Klang zwar nicht nach Martinshorn. War aber laut und schrill und sehr wirkungsvoll.

Jedenfalls kamen "Fahrer" und Notarzt zügig beim Einsatzort an. Dort fiel ihnen allerdings auf, daß sie Gehörschutz hätten verwenden sollen.

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26 März 2009

Spritzen haben gut geholfen

Samstag nacht. Hausbesuch. Drei Treppen rauf. Großes Wohnzimmer voller Menschen. Frauen mit Kopftüchern, dazwischen ein Baby. Helles Neonlicht. Ein großer Flachbildfernseher beschallt die Szenerie mit Nachrichten auf arabisch. Eine tunesische Großfamilie.

Dazwischen eine Dame, Mitte dreissig, leidend auf dem Sofa ausgestreckt. Kopfschmerzen, Übelkeit, Unruhe. Und immer neue Beschwerden. Aber die Spritzen haben gut geholfen.
Denn der Notdienst war heute schon mal hier. Und gestern war sie im Krankenhaus, davor beim Hausarzt.

Zwar fand jeder etwas anderes. Die Behandlungsscheine sprechen von Gastroenteritis, Migräne, Depression. Und jeder gab etwas anderes. Diclo, MCP, Diazepam. Aber die Spritzen haben gut geholfen.
So soll es wohl weitergehen an diesem Wochenende. Den Notdienst rufen, Spritze bekommen, Ruhe haben.

Jetzt wäre ein ruhiges Gespräch nötig. Über den Umgang mit Belastungen, ein gesundes Umfeld bei Kopfschmerzen, die Unsinnigkeit von Injektionen, die Gefahr von Benzos.
Doch dieses Gespräch wird niemand jemals mit ihr führen. Nicht in unserem Gesundheitssystem.

Der Arzt verschreibt Vomex-Zäpfchen.

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02 Januar 2009

Grippewelle ...

146 Patienten nach Weihnachten dekompensiert das System:
Einer der 146 Influenza-Kranken hat den Arzt angesteckt. Und so hat er am Sylvesterabend Schnupfen, Halskratzen und Fieber.
So wie all diejenigen, die er in den letzten Tagen, in sieben KV-Notdiensten, behandelt und beraten hat.
Sie haben Pontius und Pilatus angerufen und sind beim Notdienst gelandet. Sie standen im Wartezimmer, auf dem Flur. Und husteten, und schnieften. Schnell rein, Erkältung? Ja, Lunge abhören, Rachen einsehen, Lymphknoten tasten. Wie lange schon? Vier Tage, seit Heiligabend. Fieber dabei? Ja, 38 fünf. Schmerzen beim Husten, Kopfweh, Gliederschmerzen. Das Virus, Influenza. Echte Grippe ist es wohl noch nicht.

Einige wollen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, einige ein Antibiotikum. Doch die meisten sind mit gutem Rat und ein paar symptomatischen Medikamenten-Empfehlungen zufrieden.
Sie können sogar mit der recht schnellen Abfertigung gut leben.
Auch 28 Hausbesuche in zwölf Stunden sind keine Kleinigkeit: Raus aus dem warmen Taxi, durch den dunklen Nebel, im Hausflur zwei Treppen hoch, am Pflegebett der kranken Oma, Papierkram am Couchtisch, mutspendenden Optimismus verteilen und wieder rein ins Taxi. Abhören, anhören und angehustet werden.
Nun denn, trotz Oseltamivir ist der Arzt erkältet und definitiv nicht arbeitsfähig, allein schon wegen der Ansteckungsgefahr.
Er könnte sämtliche Senioren- und Pflege-Heime der Stadt an einem halben Tag verseuchen.
Nun muss Ersatz für die restlichen drei Dienste gefunden werden. Nicht so einfach, wo alle Urlaub haben wollen.

Vier Ärzte sind zwischen Weihnachten und der ersten Januar-Woche im Einsatz. Der Arzt hatte zehn Notdienste am Stück eingeplant. Zudem waren noch einige Praxen geöffnet. Es reichte nicht. Das System ist unter der Grippewelle dekompensiert.

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07 November 2008

Suicide

Eigentlich ist es dem Arzt stets unverständlich geblieben, warum Menschen freiwillig ihr Leben beenden. Woher kommt so viel Verzweiflung und Perspektivlosigkeit? Wohin ist der Mut verschwunden, das Steuer herumzureissen und das eigene Leben zu verändern?

In der Schule, in der fünften Klasse: Ein Familienvater erschoss sich, die Frau, die Kinder und damit die Klassenkamaradin. Achte Klasse: Die Mutter einer Freundin erhängte sich. Später im Krankenhaus: Ein Polizist, der über seine Krebserkrankung aufgeklärt worden war, bat sein Ehefrau, die Dienstwaffe mitzubringen. Sie lehnte ab. Kurz darauf war der Mann vom Dach des Krankenhauses gesprungen.

Später, im Notarztdienst: Sprung vom Kirchturm, Erhängen im Keller und auf dem Dachboden und unzählige Tabletten- und Alkoholvergiftungen, von denen man nie recht wußte ob es um Selbstbetäubung oder Suizid gehen sollte. Einige solcher Vergiftungen führten zum Tod, die meisten nicht, wenige bewirkten lebenslange Behinderung. Unerklärliche Verkehrsunfälle: Warum ist der Fahrer ohne Bremsversuch gegen den Baum gesaust? Die Gleis-Suicide nahmen auffällig zu, seidem der ICE durch den Ort rauschte.

Der Notarzt stellt den Tod fest. Auf dem Totenschein kreuzt er "nicht-natürliche Todesursache" an, immer bei Suizid. Früher oder später kommt die Kripo an den Ort des Geschehens. Sie muss ein "Fremdverschulden" ausschliessen. Manchmal sind Hausarzt oder Angehörige erreichbar. Meist wird über Depressionen oder frühere Suizidversuche berichtet. Selten ist man überrascht. Irgendwann hören Notärzte auf, nach den Hintergründen zu fragen. Nach der Vorgeschichte, den Begleitumständen, den Ursachen für Trauer, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit. Den Auslösern.

Irgendwann wird die wesentliche Frage nicht mehr gestellt: "Wäre diese Selbsttötung nicht zu verhindern gewesen?" Notärzte werden zynisch, abgestumpft, desinteressiert.

Zum nächsten Einsatz gerufen.

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07 Juli 2008

Bluthochdruck-Spirale

Ein häufiger Anblick, eine typische Konstellation: Gepflegte Wohnung, ältere Dame, alleinstehend. Auf dem Tisch: Ein elektronisches Blutdruckmessgerät, einige Schachteln mit Blutdruckmedikamenten und ein akribisch geführtes Blutdruckprotokoll, eng beschrieben in den letzten Stunden.

Die ältere Dame ist beunruhigt, aufgeregt. Gerötetes Gesicht, schnelles Atmen, nervöses Umherlaufen. Der Grund: Ihr Blutdruck ist ausser Rand und Band. Erschreckend hohe Werte hat sie in den letzten Stunden gemessen und aufgeschrieben. Und mit jeder Messung waren die Werte gestiegen. Da half weder Nifedipin noch Nitro-Spray.

Ob das Messgerät vielleicht kaputt ist? Nein, der Arzt misst ganz ähnlich hohe Werte mit seinem alten Riva-Rocci-Blutdruck-Messer.

Das Messgerät ist nicht kaputt. Aber es trägt zu dieser "Bluthochdruck-Spirale" wesentliches bei: Jeder hohe Messwert steigert die Angst der Patientin. Jede Angststeigerung der Patientin steigert den Blutdruck. Und wieder von vorne.

Der Arzt verordnet einen Blutdrucksenker und verbietet das Blutdruckmessen, zumindest für die nächsten Stunden. Er beruhigt und entdramatisiert. Klare Anweisungen, eindeutige Uhrzeiten und zur Beruhigung Einweisung und Transportschein dalassen. Und siehe: Es wirkt.

Fazit: Nicht für alle Patienten sind diese modernen, präzisen, einfachen und preiswerten Messgeräte zu Hause wirklich von Nutzen.

(siehe auch "If you don’t take a temperature you can’t find a fever")

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Fieber?

"If you don’t take a temperature you can’t find a fever" (Rule #10, “House of God” by Samuel Shem).

Dieses zehnte Gesetz aus Shems Klassiker ist so einfach wie wahr: Wenn Du keine Temperatur misst, wirst Du kein Fieber feststellen. Hierzulande kann man es auch folgendermaßen formulieren: “Ein gesunder Mensch ist auch nur ein Mensch, der nicht gründlich genug untersucht wurde".

Natürlich ist das Fieber-Gesetz im übertragenen Sinne gemeint: Als Arzt steht man, gerade zu Beginn der Weiterbildung, häufig vor der Frage, welche Untersuchungen denn bei welchen Beschwerden und Konstellationen wirklich sinnvoll sind. Je unsicherer der Berufsanfänger desto mehr apparative Untersuchungen wird er einleiten. Schrotschuß-Diagnostik: Irgendwo wird sich schon irgendwas zeigen. Anderenfalls fühlt sich der junge Arzt auf der sicheren Seite und darf in seinem Entlassungsbrief all die aufwendigen Proceduren aufzählen die ohne Ergebnis blieben. Zuguterletzt dient dieses Vorgehen auch der juristischen Absicherung. Schließlich stehen wir alle immer "mit einem Fuß im Knast".

Der erfahrene Arzt hingegen wird Untersuchungen sparsamer und gezielter einsetzen. Nicht nur, weil ihn seine Erfahrung viele Differentialdiagnosen ausschliessen läßt. Sondern auch weil er weiß, daß viele Untersuchungsergebnisse im individuellen Fall gar keine Konsequenzen hätten.

Aber das Fieber-Gesetz hat auch eine wortwörtliche Richtigkeit: Wie oft wurde der Arzt schon in Alten- oder Pflegeheime gerufen weil es einem Bewohner "nicht gut ging"? Irgendwie. Ganz diffus. Kein Appetit, große Müdigkeit, wollte gar nicht aufstehen. Oder noch krasser: Erbrechen, Unruhe, Delirium. Manchmal sogar Zittern am ganzen Körper, Zähneklappern. Das wird gelegentlich sogar als "Krampfanfall" interpretiert.

Pflegerinnen messen dann meist Blutdruck und Blutzucker, mit verheerenden Ergebnissen. Spätestens dann wird der Notarzt gerufen. Ihm werden ein Wust an Beobachtungen und einige Messwerte geschildert. "Dem Bewohner gehts nicht gut." "Hat der Bewohner vielleicht Fieber?" (Fühlt mit dem Handrücken an der Wange des Betroffenen) "Nein." "Haben Sie gemessen?" "Nein." Oder "Da muss ich in der Kurve nachsehen."

Seit kurzem hat der Arzt ein Schläfenthermometer im Koffer (10 Euro bei Aldi). Und siehe da: Der Bewohner hat doch Fieber. Oft sogar richtig hohes. Das erklärt dann all die Auffälligkeiten der letzten Tage. Jetzt nur noch die Fieber-Ursache abklären (meist Bronchien oder Harnwege) und schon kann eine kausale Therapie beginnen.

Vor zwölf Jahren, als der Arzt mit seinen Notdiensten anfing, hoffte er, daß das Fiebermessen VOR dem Notarztrufen bald zur Selbstverständlichkeit werden würde. Viel zu oft ist der Besuch im Pflegeheim seither nach dem oben geschilderten Muster abgelaufen. Heute hofft der Arzt nichts mehr.

Aber auch im häuslichen Bereich ist das Fiebermessen in Vergessenheit geraten. Gerade männliche Kranke aus südöstlichen Ländern verweigern das rektale Fiebermessen (Goldstandart) oft mit Empörung. Abgesehen davon ist in vielen Haushalten auch kein Fieberthermometer mehr vorhanden, selbst wenn dort mehrere kleine Kinder leben.

Und das Fazit? Unklare Verschlechterungen des Allgemeinzustandes gehen oft mit Fieber einher. Und Fieber kann man eben nur feststellen, wenn man die Temperatur misst.

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11 Juli 2007

Gefährlich?

Können Hausbesuche für den hausärztlichen Notarzt gefährlich werden? Kann man kleine Ärztinnen nachts losschicken? Warum wird dem Arzt manchmal mulmig zumute?

Da war zum Beispiel der Hausbesuch letzte Woche. Schäbiges Hochhaus, fünfter Stock, die Wohnungstür angelehnt. Keine Antwort von drinnen. Chaos, Unordnung und Verwesung schon im Flur der Wohnung. Leere Zwei-Liter-Weinflaschen überall. Wirklich überall. Verdrecktes Geschirr türmte sich in der Küche. Halbleere Pizzakartons. Schimmelteppiche. Der kräftige Russe lag delirant im Nebenzimmer. Aber bevor der Arzt sich um ihn kümmerte durchsuchte er den Rest der Wohnung. Gefasst auf alles, was dort noch lauern könnte.

Da war zum Beispiel das Fixerpaar mit dem Hund. Verwahrloste Wohnung ohne Möbel. Kalter, alter Tabakrauch. Schmierige, trübe Fensterscheiben. Er machte auf schwer krank und entzugig. Wollte Benzodiazepine. Die beiden wurden frech und fordernd als der Arzt ihnen nichts glaubte. Wollten selbst nachsehen, was im Koffer sei. Hätten die Rezeptformulare sicher gerne an sich genommen. Wie wäre eine Rangelei ausgegangen? Wäre mit infizierten Spritzennadeln gedroht worden?

Da waren zum Beispiel immer wieder südländische Männer, die gegen ihre Befindlichkeitsstörungen Spritzen haben wollten aber nur guten Rat bekamen. Den sie nicht verstanden. Auch die wurden schon fordernd. Besonders wenn sie auch noch zehn Euro zahlen müssen.

Da sind zum Beispiel immer wieder überforderte Angehörige von Pflegefällen, denen der Arzt nicht den Gefallen einer Krankenhauseinweisung tun kann.

Und da sind immer wieder große Hunde, verkommene Gebäude, dunkle Flure, unzufriedene Patienten oder Angehörige, gewalttätige Alkoholiker.

Sicher, der Rettungsdienst bringt immer wieder gefährliche Situationen, auf Autobahnen, Baustellen, in Fabriken. Aber der hausärztliche Notdienst ist dafür immer alleine. Unten auf der Straße wartet eine Taxifahrerin. Und ein prallgefüllter Arztkoffer, die dicke Formularmappe mit Rezepten sowie die gesammelten Praxisgebühren eines Tages könnten Begehrlichkeiten wecken.

Ja, Hausbesuche können gefährlich werden. Ja, kleine Ärztinnen sind nachts gefährdeter.

Der Arzt trifft folgende Vorsichtsmaßnahmen: Immer Licht dabei haben. Immer den Rückweg merken. Niemals der Bitte folgen, die Schuhe auf der Schwelle auszuziehen. Niemals eine Wohnung betreten, in der sich ein größerer Hund frei bewegt.

Aber vor allem: Sicher sein, das Richtige zu tun.


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21 Juni 2007

Paracetamol

Paracetamol? Ist ein Schmerzmittel. Viele Schmerzpatienten glauben allerdings nicht an seine Wirkung. An irgendeine Wirkung. "Fieberzäpfchen für Kinder?" sagen sie ungläubig "das soll mir helfen?"

Aber Paracetamol wirkt. Manchmal wirkt es sogar tödlich.

Sie war Krankenschwester, jung, Anfang 20. Sie hatte Unterbauchschmerzen. Wie jeden Monat. Dagegen nahm sie eine Paracetamol-Tablette. Bald wurde ihr übel und schwindelig. Sie kollabierte, als der Notarzt an der Tür klingelte. Bevor Sie das Bewußtsein verlor, konnte sie noch erklären. Der Blutdruck sackte ab. Anaphylaktischer Schock. Beatmung, Herzdruckmassage, Katecholamine, Kortison. Von ihrer Wohnungstür bis zur Ambulanz. Sie war so instabil, daß die Reanimation im RTW fortgeführt wurde. Fast drei Stunden lang. Erfolglos. Sie starb am späten Nachmittag, vier Stunden nach der Paracetamol-Einnahme.

Was sie dem Notarzt erklärt hatte? Daß sie allergisch gegen Paracetamol war. Das stand sogar in ihrem Allergieausweis. Vor ein paar Monaten war es ihr schon mal so ähnlich gegangen, nach einer Paracetamol. Da hatte sie es testen lassen. Hatte sie gehofft, die Tablette trotzdem gut zu vertragen?

Seither verordnet der Arzt Medikamente noch ein bisschen zurückhaltender.

Auch Paracetamol.

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15 Juni 2007

Montag früh um neun

Montag früh um neun: "Nicht ansprechbare Person auf Baustelle!" Der Notarzt fand einen älteren Bau-Arbeiter am Boden einer Baugrube: Zitterig, verwirrt, verängstigt, offensichtlich postiktal. Was war passiert?

Der Mann war monatelang arbeitslos gewesen und hatte heute morgen endlich wieder einen Job auf der Baustelle begonnen. Nüchtern. Denn in den Monaten der Arbeitslosigkeit hatte er anscheinend durchgehend getrunken. Auch morgens.
Den neuen Job nüchtern angetreten, in den Alkoholentzug gerutscht, gekrampft. Alkohol-Entzugs-Krampf nennt man so was. Jetzt benommen aber unruhig nach dem Krampfanfall. Der Notarztwagen brachte den armen Kerl in die Neurologie.

Keine zwei Stunden später: PKW-Unfall im selben Stadtteil. PKW vor Laterne, auf gerader Strecke. Ursache nicht ersichtlich, Fahrer nicht ansprechbar. Aber bekannt. Und postiktal. Wieder. Die Braunüle steckte noch im Handrücken. Was war passiert?
Der Mann war schnurstracks aus der Neurologie entfleucht und hatte versucht, den Heimweg mit seinem Auto zu meistern. Zweiter Krampanfall. Diesmal Chirurgie.

Solche Dinge kommen vor, Montag früh um neun.

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14 Dezember 2006

Unter-Zucker

Eines ist uns aus dem Studium über Diabetes in Erinnerung geblieben: Sowohl Zuckermangel als auch Überzuckerung können Verwirrung und Bewußtlosigkeit verursachen.

Daß aber beide Extreme, Über- und Unterzuckerung, ganz unterschiedliche Verläufe und Krankheitsbilder bedingen, fällt uns erst dann wieder auf, wenn wir die ersten Patienten mit Hyp-O-glycämie erlebt haben.

Er war alt, dürr und mürrisch. Seine Frau hatte den Notarzt gerufen, weil er Anzeichen der Unterzuckerung gezeigt hatte. Sie hatte mit guten Worten und Marmeladenbrot versucht, seinen Zucker anzuheben. Doch es hatte nicht geholfen. Er weigerte sich. War mürrisch und störrisch. So saß er am Küchentisch vor seinem Marmeladenbrot als der Notarzt eintraf. "Scheren Sie sich zum Teufel! Was wollen Sie von mir? Raus aus meiner Wohnung!" knurrte der alte Mann den Notarzt an. Blutzucker messen? Zugang legen? Nicht bei ihm. Der Notarzt versuchte es mit guten Worten. Pries das leckere Marmeladenbrot. Verwies auf die Sorge der Ehefrau. Warnte vor dem Zucker-Schock. Nichts zu machen.

Der alte, dürre Mann wurde immer schwächer, dabei aber immer aggressiver. Versuchte den Notarzt zu kratzen. Schimpfte vor sich hin. So sei es immer, wenn er unterzuckert sei, sagte die Frau.

Der entscheidende Plan kam vom erfahrenen Rettungsassistenten: Das Daunenbett wurde auf dem Küchenboden ausgebreitet. Mit vereinten Kräften wurde der kleine Mann darauf gebettet und festgehalten. Jetzt wurde er wieder aktiv: Schimpfte, spuckte, kratzte und biss um sich. Schlimme Beleidigungen und Verwünschungen warf er dem Notarzt an den Kopf. Stellvertretend für seine Berufsgruppe war der Arzt schuld an allem Elend, daß dem Patienten widerfahren war: Gekürzte Rente, amputiertes Bein, misslungene Operationen und zahllose Krankenhausaufenthalte. Noch nie war der Arzt, der mittlerweile auf dem Patienten saß, bisher so beschimpft worden.

Dennoch gelang ihm ein Zugang in die brüchigen Venen des zappelnden alten Mannes. Und kaum fluteten die ersten zwanzig Milliliter 40-prozentiger Glucose seinen Organismus hörte das Zappeln und Schimpfen schlagartig auf. "Verzeihung, Herr Doktor, habe ich Sie beleidigt?" fragte er zaghaft. Während er sich vom Daunenbett aufrappelte und sich seinem Marmeladenbrot zuwandte gestand er verschämt, daß solcherlei nicht zum ersten Mal vorgekommen sei. Es tue ihm leid und er bitte um Entschuldigung.

Der Blutzuckerwert, der nach dem Legen der Braunüle entnommen worden war, zeigte später einen Wert um 30mg%.

In seinem späteren Berufsleben traf der Arzt immer wieder auf Unterzuckerte, die unruhig, aggressiv, verwirrt herumtigerten. Und die sich oft gegen ein helfendes Eingreifen wehrten. Entwicklungsgeschichtlich die Suche nach den rettenden Kohlenhydraten, bei der man sich nicht aufhalten lassen will? Wer weiß?

Noch drei Mal war der Notarzt in den Folgejahren bei dem alten Mann zu Hause. Zwei Mal Hypoglykämie. Beim dritten Mal Todesfeststellung.

Die Frau war Einkaufen gewesen.



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05 Mai 2006

Sucht

Ärztestreik. Hausärztlicher Notdienst. Viele Patienten. Rezeptwünsche. Aber vor allem AUs. Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen. An diesem ersten schönen Tag im Jahr.

Dazwischen ein älteres Paar. Gut situiert. Gut gekleidet. Allerdings ist sie eher wortkarg. Sieht irgendwie zu "aufgemacht" aus.

"Nur ganz schnell dazwischen, wir brauchen ein Rezept. Dauert nicht lange." Ach so?

Worum gehts denn? Er nennt den Namen. "Leider ist die Packung gerade heute zuende gegangen. Schreiben Sie doch bitte eine große auf." sagt er ganz freundlich.

Leider hat der Arzt das schon zu oft erlebt. Daß er doch bitte eben eine große Packung Schmerzmittel, Hustenblocker, Schlafmittel, Sedativa, Antidepressiva aufschreiben möge. Denn man fahre morgen in den Urlaub. Oder der Vater litte so unter Schmerzen. Man sei bestohlen worden. Und gerade heute habe der Arzt ja geschlossen.

"Temazepam" ist ein suchtauslösendes Beruhigungsmittel, daß man jetzt nicht verschreiben werde, daß wahrscheinlich auch der Haus-Neurologe nicht aufschreiben würde, erklärt der Arzt. Das wissen die beiden natürlich. Aber sie empören sich. Wie immer. Freundlich fangen solche Gespräche an. Zu freundlich vielleicht. Später Empörung. Beschimpfungen manchmal. Was man denn für ein unmenschlicher Arzt sei. Ob man keinen Eid geschworden habe zu helfen. Wessen man die Bittsteller wohl verdächtigen würde. Ein Unding, das man melden werde. Unverschämte Frechheit.

Meist beruhigt sich die Situation wieder, wenn man einen Kompromiss anbietet. Eine Tablette Oxazepam für die Nacht, zum Beispiel. Wieder freundlich: Ob man nicht gleich zwei haben könne.

Diesmal hat sich der Besuch für die Beiden nicht gelohnt. Aber man kanns ja später nochmal versuchen. Oder nächstes Wochenende.

Irgendwann sitzt wieder ein gutgläubiger Anfänger hier.



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Koma

"Hilflose Person hinter verschlossener Tür"

Der Arzt fand zwei hilflose Personen, nachdem die Tür aufgebrochen worden war: Den etwa 70-jährigen Vater und seine etwa 40-jährige Tochter.

Beide bewußtlos, aber spontan atmend. Beide in ihren Betten. In einer kühlen, dunklen Altbauwohnung, in den ersten Wintertagen zu Beginn der Neunziger.

Seltsam: Neben dem Bett des älteren Herrn fand sich ein Eimer mit etwas Erbrochenem. Auf dem Nachttisch eine geöffnete Ampulle MCP, was auf vorangegangene Übelkeit und die Anwesenheit eines hausärztlichen Notdienstes schließen ließ.

Weiteres war nicht in Erfahrung zu bringen. Wie lange die beiden schon dort lagen. Was geschehen war. Ein kollektiver Suizid? Vergiftung durch Lebensmittel? Alles blieb unklar.

So verbrachten der Arzt und die Feuerwehr die beiden in verschiedene Krankenhäuser. Die Intensivstationen blieben in telephonischem Kontakt. Möglicherweise würde einer der Beiden aufwachen und berichten können.

Auch die Labordiagnostik und ein Neuro-Konsil brachten keine weiterführende Hinweise.

Stunden später erwachte dann aber die Tochter im Nachbarkrankenhaus. Und berichtete über die Probleme des Vaters am Vortag. Schwindel, Übelkeit und Kurzatmigkeit habe er verspürt. Immer müder sei er geworden. Der Notdienst habe aber nichts gefunden und nur eine Spritze gegeben. Und dazu noch die kalte Wohnung. Wintereinbruch. Beide hätten den Kohleofen nicht recht zum Laufen gebracht.

Damit besteht ein Verdacht, der sich durch den HbCO-Wert bestätigt: Kohlenmonoxid-Vergiftung.

Und damit erklärt sich auch die rosige bis dunkelrote Hautfarbe, ungewöhnlich gesund wirkend bei Komatösen und die tiefe Atmung.

Rästelhaft bleibt, warum in der Wohnung kein Rauchgeruch oder ähnliches aufgefallen war. Vielleicht hatte man sich doch zu sehr auf die komatösen Patienten konzentriert?

Später legte die Feuerwehr den Kohleofen still.


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11 Februar 2006

Unerwartet

Ein Freitagabend im Krankenhaus. Reichlich Arbeit. Ambulanz, Intensivstation, periphere Stationen, alle Probleme nur für den Diensthabenden.

Sie kam mit Rückenschmerzen. Kolikartig, ins Becken ziehend. Mollig, Ende Dreissig. Eine vernünftige Frau, gebürtig hier, beunruhigt durch diese unerklärlichen, zunehmenden Krämpfe.
Zugang, Blutentnahme, Infusion, Ausruhen auf der Untersuchungsliege in der Ambulanz, Fiebermessen. Wahrscheinlich Nierensteine oder Nierenbeckenentzündung, oder? Schaut sich der Arzt später an; erstmal den Gomer untersuchen, der gerade nebenan mit Fieber aus dem Heim eingeliefert wurde.

Wenig später: "Doktor, schaust Du nochmal nach der Dame mit den Koliken, es wird nicht besser."

Also, was ist mit diesem Rücken? Nierenlager klopfschmerzhaft? Der Bauch ist ziemlich dick. Sehr dick und rund. Was ist das? Keine Luft, kein Aszites, keine Adipositas. Ein Baby! Na klar, ein schwangerer Bauch. Der Arzt, Vater vieler Kinder, hat die Handgriffe gelernt: Hier der Rücken, da der Kopf, im Becken.
Die Frau ist offensichtlich hochschwanger. "Sie sind schwanger und zwar sehr." "Ich, schwanger? Nein, sicher nicht." Aha.

Diese Dame ist schwanger und weiß nichts davon. Gibt es das? Der Arzt denkt an seine Lehrbücher und an die Geschichten aus der Boulevard-Presse: hysterische Scheinschwangerschaften, überraschende Sturzgeburten, zurückgelassene Neugeborene. Niemand hat etwas gemerkt. "Frauen sind potentiell immer schwanger, ob sie es wissen oder nicht. Vor dem Röntgen: Schwangerschaftstest. Dann kannst Du sicher sein."

Während die Patientin dem Arzt erklärt, warum eine Schwangerschaft nicht möglich ist - Lebenspartner verlassen und so weiter - sucht der nach der versteckten Kamera. Das ist doch nicht wahr, oder? Wie kann jemand neun Monate Schwangerschaft ignorieren? Oder verdrängen? Frauen sind sonderbare Wesen. Immer muss man mit allem rechnen. Oder liegt der Arzt daneben? Gibt es Bauchtumoren, die sich anfühlen wie Babies? Ein Ultraschall wird Klarheit bringen.

Sonographie: Ja, schauen Sie: Hier ist der Rücken, da der Kopf, das Herzchen schlägt kräftig. Ein großes Kind in ihrem Bauch. Nein, Doktor, ich kann nicht schwanger sein. Da kommen die Krämpfe wieder. Wehen! Na klar. Die Entbindung steht an.

Draussen, auf dem Flur, sitzt der Partner. Versöhnung vor ein paar Wochen. Schwangerschaft? Ein Baby? Nein, ganz bestimmt nicht. Na, dann kommen Sie mal mit. Rauf in der Kreissaal.

Eine knappe Stunde nach ihrer Vorstellung in der Ambulanz entband die Dame ein gesundes Mädchen.
Völlig unvorbereitet. Unerwartet. Ohne Mutterpass und Laborkontrollen. Gegen ärztlichen Rat, sozusagen.

Zuhause gab es kein Kinderzimmer. Keinen Kinderwagen. Keine rosaroten Strampler. Sie haben sich trotzdem gefreut.

Beide. Sehr sogar.

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09 Februar 2006

Aufgeregt

Der Hausarzt hatte die Patientin angemeldet: "Schauen Sie doch bitte mal dort vorbei. Die Dame ist bekanntermaßen etwas aufgeregt. Beruhigen Sie sie einfach."

In der Wohnung angekommen fand der Arzt die Dame wirklich etwas aufgeregt. Auch atemlos. Die weichen, eindrückbaren Unterschenkel und die feuchten Rasselgeräusche über der unteren Lungenhälfte waren deutliche Hinweise auf eine dekompensierte Herzschwäche. Dazu passte dann auch der Krankenhaus-Entlassungsbrief vom Vorjahr: Global dekompensierte Herzinsuffizienz.

Die Aufregung hatte also einen Grund, der Rettungswagen holte die Dame ab, nachdem sie Nitro und Furosemid bekommen hatte. Und der Arzt merkte sich: Besser ist es ein eigenes Urteil zu bilden.

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10 November 2005

Vergessen

Der Berater hatte sich lange auf diesen Morgen vorbereitet. Er hatte den Betrieb kennengelernt, die Buchhaltung geprüft, mit den Mitarbeitern geredet, den Markt erforscht, ein Konzept erarbeitet. Zur Sanierung. Das sollte nun heute morgen vorgestellt werden. Die Powerpoint-Präsentation, der Beamer, das Notebook, die Handouts, alles war perfekt. Perfekt gekleidet und vorbereitet war der Berater.

Doch sein Auftritt geriet wirr. So wirr, daß die Firmenleitung nach einer halben Stunde den Notarzt rief. Der Arzt fand die Mitarbeiter, peinlich berührt, im Sitzungsraum vor Kaffeekannen. Ein Mitte-50-Jähriger, gut gekleidet, aber völlig desorientiert, ratlos, beunruhigt, fast panisch. Bedauernswert. Vitalzeichen normal. Vielleicht ein seltsamer Schlaganfall? Entzug? Amphetamine?

Behutsame Fragen unter Ausschluß der Öffentlichkeit: Alter, Name, Familie, Beruf bekannt. Berater. Auch der Auftrag war erinnerlich. Aber alles andere, Zeit und Ort? Wie war er hierher gekommen? Was war passiert? Warum die Aufregung? Wieso ein Arzt und Rettungssanitäter?

Im Notarztwagen immer dieselben Fragen, alle 30 Sekunden: "Bitte, Entschuldigung, wo sind wir hier? Wo fahren wir hin?" Der Arzt erklärt. Einmal, zweimal, immer wieder.

30 Sekunden später: "Bitte, Entschuldigung, wo sind wir hier? Wo fahren wir hin?" Immer im gleichen, beunruhigten Tonfall. Anscheinend vergisst er alles gleich wieder. Der Speicher wird sofort gelöscht. Nur mit Fragen nach früheren Ereignissen ist er eine Weile abzulenken, dann wieder: "Bitte, Entschuldigung, wo sind wir hier? Wo fahren wir hin?"

Später hat der Arzt immer mal wieder Patienten mit solch einer seltsamen Kurzzeit-Amnesie erlebt, immer ratlos, schwer beunruhigt, auch die Angehörigen, die immer wieder die Umstände erklären mussten.

So auch im letzten Notdienst, am Sonntag. Irgendwann fiel ihm der Name dieser Krankheit wieder ein: "Transiente globale Amnesie (TGA)" oder "Amnestische Episode". Da konnte er die Angehörigen beruhigen. Und einen Bericht drüber schreiben.

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05 November 2005

Kurz

Er kam aus einer anderen Stadt. War an der Endhaltestelle aus der S-Bahn aufgelesen worden. Kam mit dem RTW in die Ambulanz. Kein Name, keine Papiere, nicht fähig Auskunft zu geben. Ende zwanzig vielleicht, aber greisenhaft ausgemergelt, abgemagert, schwach und stinkend dreckig. Im Geldbeutel ein Terminzettel einer Arztpraxis, Methadonprogramm. Ein Drogensüchtiger.

Drogies will niemand im Krankenhaus. Sie fordern von Ärzten und Schwestern Beruhigungsmittel von der starken Sorte. Klauen sie dann aus dem Medikamentenschrank. Machen sich dann aus dem Staub, wenn sie die Handtaschen der Omis durchwühlt und die ganze Station in Aufruhr versetzt haben. Doch diesen kann der Arzt nicht wegschicken.

Verlaust, verdreckt, vielleicht HIV-positiv? Nicht mal stehfähig, kurzatmig. Beim Husten schwallartig Eiteriges. Aber kein Fieber.

Zum Glück gibt es auch in diesem Krankenhaus beherzte Schwestern, die sich nicht zu schade sind, so jemanden erstmal zu baden, zu waschen, zu entlausen.

Danach die Aufnahme-Untersuchung am sauberen Bett, sauberer, rasierter Patient in weißen Laken: Als er sich aufsetzen soll setzt die Atmung aus, der Puls auch. Neurologische Reaktionen komplett weg. Ganz plötzlich alles auf Null. Vollständig. Und unumkehrbar: Alle Reanimationsbemühungen, mit Anästhesisten, auf Intensivstation, eine Stunde lang, alles umsonst. Keine QRS-Zacke, kein eigener Atemzug, keinerlei Pupillenreaktion. Ungewöhnlich, daß jemand so schnell so tot sein kann. Selbst alte, herzschwache Patienten zeigen doch hin und wieder kleine Herzaktionen oder Bewegungen während einer Reanimation. Hier: Nichts.

Das schnelle Ende eines kurzen Lebens.

Die Obduktion ergab nichts ausser einer Lungenentzündung bei einem stark reduzierten Allgemeinzustand.

Die Angehörigen wurden erst Tage später von der Polizei aufgetan. Sie hatten keine Fragen.


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Rot!


Warum es nicht voran geht?

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04 November 2005

Verweigert


Einmal wurde der Notarztwagen in eine Villa am Stadtrand gerufen. Sauberer Vorgarten, weiter Eingangsbereich, viel Platz, spiessige Gemütlichkeit. Doch dem Hausherrn ging es schlecht. Er quälte sich in seinem großen Doppelbett, Schwindel, Schwäche, Übelkeit. Beim Toilettengang zusammengeklappt, kaltschweissig. Die Angehörigen sehr besorgt. Er klagt doch sonst nicht.

Zügig einen Zugang, eine Infusion. Blutdruck eher niedrig.

Seit Wochen schon diese Rückenschmerzen im Brustbereich, ausstrahlend nach vorne. Am Bett liegen noch die Ampullen, die der Hausarzt verabreicht hat: Diclofenac plus Dexamethason. Das bekam er wohl jeden Tag, denn er war eine Persönlichkeit in der Stadt.

Keine Frage, ein Notfall. Ein Notfall, der wie alle anderen Notfälle zügig ins Krankenhaus muss, denn vor Ort läßt sich kaum etwas untersuchen. Mit Blaulicht. Jetzt.

Doch er will nicht. Kennt das Krankenhaus zu gut. Die Strukturen, die Personen. Unterschreibt, daß er die Mitfahrt verweigert. Also, alle Schläuche ab und Gute Besserung.

Keine Stunde später der zweite Einsatz dort. Jetzt war der Mann im Schock. Konnte der Notfalleinweisung nicht mehr widersprechen.

Später fanden die Chirurgen im Krankenhaus ein großes blutendes Magengeschwür. Der Mann hat die Operation nicht überlebt.

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03 November 2005

Schnell


Ein düsterer Flur. Das Wohnzimmer eng, vollgestellt. Jahrzehntealter Zigarettenrauch. Im Schummerlicht ein Mann auf dem Ledersofa. Couchtisch mit Blutdruckmessgerät, Blutzuckermessgerät und vollem Aschenbecher. Er klagt über Schwindel, Schwäche, Sausen in den Ohren. Kein Wunder; Bluthochdruck? Diabetes? Die Frau fängt an, alle Medikamente einzusammeln, die er nimmt. Ja, alle. Bitte. Insulin, Delix...

Er ist schwach, schwankt im Sitzen, nuschelt ein bisschen. BZ 220, Puls 120, Blutdruck 80, palpatorisch. Aha, das ist wenig. Haut nicht überwärmt aber feucht, schweissig. Kein Fieber also. Die Blutdrucktablette heute nicht eingenommen. Woher also, fragt der Arzt, der niedrige Blutdruck?

Die gerahmten Photos an der Wand zeigen ihn und die Frau. Er wirkt dort 20 Jahre jünger, sie dagegen nicht. Es geht ihm nicht gut. Blass ist er. Erzählt jetzt kreuz und quer von früheren Operationen, verschiedenen Ärzten, wer bei wem in der Praxis, die Rückenschmerzen... Die Frau auch...

Rückenschmerzen, Schmerzmittel, vielleicht auch schwarzer Stuhlgang? Blutverlust?

Ja, und schon seit Tagen.

Jetzt schnell: Rettungswagen rufen, Zugang legen, Scheine ausfüllen. Als die Rettungsassis eintreffen: Ringer anhängen. Alles passt: Blutung in den Magen-Darm-Trakt, vielleicht durch Togal. Die Blässe, der Schwindel beim Sitzen, die schnelle Verschlechterung, die Ernsthaftigkeit der Situation-

RR: 80/..., HF: 140, Sättigung: 99. Im Rettungswagen ist der Mann kurz nicht mehr ansprechbar. Dann steigt der Blutdruck unter HAES-Infusion.

Die kleine Frau in der Ambulanz ist wohl die Ärztin. Sie stellt sich nicht vor, als sie den Patienten übernimmt.

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